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Entwicklungspädiatrie

«Wir Eltern haben weniger Einfluss, als wir meinen»

Wie geht es den Kindern? Diese Frage sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Elf Fachleute wollen in einem neuen Buch über die Kindheit für Entspannung sorgen. Herausgeber und Entwicklungspädiater Oskar Jenni spricht im Interview über romantische Vorstellungen, zweifelnde Eltern und die Gründe, wieso immer mehr Kinder abgeklärt werden.
Carole Scheidegger
Kind bei den Hausaufgaben
«Kinder brauchen Orientierung in dieser komplexen Welt. Man darf das Kind aber immer wieder auch einfach Kind sein lassen», sagt Oskar Jenni. (Bild: iStock/damircudic )

Das Buch «Kindheit» trägt den Untertitel «Eine Beruhigung». Wen möchten Sie beruhigen?

Oskar Jenni: Das Buch richtet sich an eine Gesellschaft, die in Aufruhr ist. Es gibt viele Bedrohungen, die für Unruhe sorgen. Die Unsicherheiten schwappen auch auf die Kinder über. Eltern wiederum fordern von Expert:innen häufig klare Meinungen, wie sie damit umgehen sollen. Die Wissenschaft kann aber keine einfachen Rezepte liefern. Sie kann jedoch eine Auslegeordnung machen, Ambivalenzen und Widersprüche aufdecken und so Denkanstösse ermöglichen. Die Einsicht, dass das Leben kompliziert ist, kann letztlich auch ein Stück weit beruhigend sein.

Das Buch ist in einem interdisziplinären Thinktank entstanden, den Sie gegründet haben. Was haben Sie selbst Neues über die Kindheit gelernt?

Als Entwicklungspädiater kümmere ich mich um Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen. Ich fokussiere dabei auf das einzelne Kind und seine Familie und versuche, immer vom Kind her zu denken. Es war zugleich schon lange mein Wunsch, Kinder nicht nur aus einer individuellen Perspektive zu betrachten, sondern die Kindheit in ihrer Gesamtheit und im gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Daraus entstand der interdisziplinäre «Thinktank. Für das Kind» an der Zürcher Falkenstrasse. Wir haben zusammen herausgearbeitet, wie die Gesellschaft ausgestaltet sein muss, damit es zu einer bestmöglichen Passung zwischen dem Kind und seinem Umfeld kommen kann. Denn ich bin überzeugt: Nur durch einen «Fit» können sich Kinder bestmöglich entwickeln.

Welche Faktoren führen dazu, dass Kinder ein gutes Leben haben?

Diese Frage beschäftigt mich in meiner Forschung intensiv. Wir bauen zurzeit die Zürcher Longitudinalstudien, die 1954 am Kinderspital Zürich begonnen wurden, zu einer Lebensspannen-Studie aus. Dabei verfolgen wir bei fast 1000 Personen die Entwicklung von Geburt bis in das Alter. Die Frage nach den Faktoren für ein gutes Leben steht dabei im Vordergrund. Sind es die frühen Beziehungen, die wir als Kinder zu unseren Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen aufgebaut haben? Oder sind es vielmehr unsere Intelligenz und Persönlichkeit? Welche Rolle spielt der familiäre Bildungsstand und das Erziehungsklima? Ich bin ziemlich sicher, dass «harte» Faktoren wie der IQ oder der Schulerfolg weniger wichtig sind für ein gutes Leben im Alter als «weiche» Faktoren wie die Beziehungen oder das Erziehungsklima in der Kindheit.

Oskar Jenni

Ich spreche jeweils von den fünf «V»: Eltern sollen vertraut und verlässlich sein, verfügbar und verständnisvoll sowie voller Liebe.

Oskar Jenni
Entwicklungspädiater

An die Eltern werden heute grössere Erwartungen gestellt als früher. Wieso?

Vor 50 Jahren war Erziehung noch bestimmt durch Gehorsam und Disziplin. Der Staat und die Kirche waren die Autorität. Heute haben die Menschen viel mehr individuelle Freiheiten. Diese Individualisierung hat dazu geführt, dass die Gesellschaft die Verantwortung für die Kinder weitgehend den Eltern übertragen hat. Und die Eltern nehmen ihre Aufgaben ernst. Aber man muss wissen: Wir Eltern haben viel weniger Einfluss, als wir meinen. Wir können den Lebensweg unserer Kinder nicht so steuern, wie wir wollen.

Viele Eltern zweifeln oft stark an sich selbst.

Zweifeln ist normal. Das gehört zur Elternschaft. Man darf in der Erziehung auch Fehler machen und bisweilen auch daran scheitern. Elternschaft und Perfektionismus vertragen sich nicht gut.

Was sollten Eltern aus Sicht der Wissenschaft denn tun?

Ich spreche jeweils von den fünf «V»: Eltern sollen vertraut und verlässlich sein, verfügbar und verständnisvoll sowie voller Liebe.

Das klingt sehr romantisch.

Verlässlich und verfügbar sind nicht unbedingt romantische Attribute. Es geht darum, dass man dem Kind einen Rahmen gibt, in dem es sich frei bewegen kann, eine Struktur, auf die es sich verlassen kann. Kinder brauchen Orientierung in dieser komplexen Welt. Man darf das Kind aber immer wieder auch einfach Kind sein lassen – es soll unbeschwerte, sorgenfreie, liebevolle Momente erleben. Stimmt, das ist eine Romantisierung der Kindheit. Aber auch eine Sehnsucht nach einem Leben, das wir als Erwachsene nicht mehr führen können und eine Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe. Am Schluss müssen beide Aspekte der Kindheit Platz haben: Die Kindheit als Zustand, in der das Kind im Moment leben darf, und die Kindheit als Phase, in der es sich zu einem reifen Erwachsenen entwickelt. Die Balance zwischen diesen beiden Polen macht eine gute Kindheit aus.

In der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich stehen weit über 2'000 Kinder auf der Warteliste für Abklärungen.

Heute werden mehr Kinder abgeklärt und therapiert als früher. Woran liegt das?

Bei uns in der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich beträgt die Wartezeit für Abklärungen derzeit 12 bis 18 Monate – weit über 2'000 Kinder stehen auf der Warteliste. Die Gründe für die steigenden Abklärungen sind vielfältig: Fachleute sind besser ausgebildet, sie sind kompetenter als früher, und man schaut genauer hin. Auch werden Verhaltensstörungen und Entwicklungsauffälligkeiten heute nicht mehr stigmatisiert. Ausserdem hat der Leistungsdruck der Gesellschaft zugenommen und führt oftmals zu Überforderungen. Ausserdem überleben dank der Fortschritte der Medizin heute mehr Kinder, die vor 20 Jahren gestorben wären. Sie zeigen dann aber im Verlauf vermehrt Entwicklungsauffälligkeiten. Ich möchte aber klar betonen, dass der Anstieg an Abklärungen und Diagnosen nicht nur schlecht ist. Früher haben die Kinder und Jugendlichen einfach im Stillen gelitten; heute können wir sie beraten und ihnen helfen.

Manchmal besteht wohl der Anreiz auch darin, dass für ein diagnostiziertes Kind in der Schule mehr Ressourcen eingesetzt werden können.

Ja, es gibt das Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma. Das Kind braucht ein Etikett, damit es jene Ressourcen bekommt, die es in seiner Entwicklung unterstützen. Gleichzeitig birgt die Etikette ein Risiko für Stigmatisierung. Das ist ein Spannungsfeld, in dem wir uns oft bewegen.

Wie gehen Sie damit um?

Wir müssen Lösungen suchen, die das individuelle Wohl eines Kindes berücksichtigen und die dem Kind nicht schaden und gerecht sind. Man muss dabei die Vor- und Nachteile einer Diagnose sorgfältig abwägen. Der Schlüssel liegt darin, ein Umfeld zu schaffen, das den individuellen Eigenheiten und Bedürfnissen eines Kindes gerecht wird, und somit einen «Fit» zu erreichen, ohne dass es dabei auf seine Diagnose reduziert wird.

Ein gerechtes Bildungssystem wäre wichtig, aber wir sind als Gesellschaft sehr weit davon entfernt.

Wie gerecht ist unser Schulsystem?

Ein gerechtes Bildungssystem wäre wichtig, aber wir sind als Gesellschaft sehr weit davon entfernt. Wir haben das sehr intensiv im Thinktank diskutiert. Allerdings können einzelne Personen – vor allem Lehrerinnen und Lehrer – eine gewisse Gerechtigkeit schaffen, wenn sie das Entwicklungspotenzial eines Kindes erkennen und fördern. Wir müssen die Lehrpersonen dabei in ihrer Tätigkeit unbedingt anerkennen und unterstützen, denn sie können Gerechtigkeit im Kleinen schaffen.  

Gibt es andere Aspekte der Schule, die Sie beschäftigen?

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Selektion in der Schule. Da waren wir uns im Thinktank einig: Unser System selektioniert zu früh, was grossen Leidensdruck auslösen kann.

Was wäre die Alternative?

Wann der richtige Zeitpunkt der Selektion ist, muss breit diskutiert werden. Es braucht auch Vergleiche innerhalb der Schweiz. Es gibt Kantone, die später selektionieren, als es zum Beispiel der Kanton Zürich tut.

Elternschaft ist das letzte grosse Abenteuer. Man hat keine Ahnung, worauf man sich mit einem Kind einlässt, wie das Kind sein wird.

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf Kinder aus?

Auch hier gilt: Es gibt kein schwarzes oder weisses Bild. Der Psychologe Jonathan Haidt postulierte kürzlich einen Zusammenhang zwischen der Erfindung des Smartphones und der Zunahme von psychischen Störungen und Suiziden von Jugendlichen. Eine solche monokausale Schuldzuweisung ist wissenschaftlich nicht haltbar. Manche Jugendliche können durchaus kompetent mit digitalen Medien umgehen. Andere wiederum, wie ich sie häufig im klinischen Alltag sehe – zum Beispiel Kinder mit Autismus oder ADHS –, sind verletzlicher, was die digitalen Medien angeht. Wichtig ist, dass Bezugspersonen dranbleiben und dass die digitale Welt nicht zum Lebensmittelpunkt der Kinder wird. Wissenschaftlich gut belegt ist, dass Eltern, die gestresst sind, ihren Kindern mehr Medienzeit erlauben. Also gilt es, immer auch die Belastungen von Familien zu berücksichtigen.

Welche Rolle spielt die Politik beim Thema Kindheit?

Das Kind ist im toten Winkel der Politik. Grund dafür ist einerseits die Heterogenität der Kindheit. Sie ist nicht gut fassbar. Und andererseits die Kurzsichtigkeit der Politik. Wir investieren als Gesellschaft viel zu wenig Mittel in die Kindheit. Es wurde zwar viel in Bildung investiert in den letzten 20 Jahren. Trotzdem werden heute nur etwa vier Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Bildung und zwei Prozent für die frühe Kindheit ausgegeben, während zwölf Prozent in die Renten fliessen. Auch die Gesundheitskosten der Kinder sind pro Kopf viel tiefer als diejenigen von Erwachsenen, obwohl Kinder nicht unbedingt gesünder sind.

Es wird viel über die Kindheit gesprochen, gleichzeitig haben die Menschen in Europa immer weniger Kinder.

Elternschaft ist das letzte grosse Abenteuer. In einer Gesellschaft, die ein grosses Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle hat, passt dieses aber nicht mehr so richtig in die Zeit. Man hat keine Ahnung, worauf man sich mit einem Kind einlässt, wie das Kind sein wird. Aber wie wir im Buch festhalten, ist Elternschaft der grosse transformierende Prozess im Leben. Eltern sein kann sich also lohnen. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir ohne Kinder und Jugendliche die Innovationskraft der Gesellschaft verlieren. Ich möchte nicht in einer alternden Gesellschaft alt werden.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Haben Sie eine prägende Kindheitserinnerung?

Meine Eltern und Grosseltern haben die «fünf V» gelebt und haben eine sehr gute Balance gefunden zwischen Freiheiten geben und Grenzen setzen. Sie haben also im Rückblick sehr vieles richtig gemacht. Ob ich es selbst mit meinen eigenen Kindern gut gemacht habe, werden sie mir dann wohl in 20 oder 30 Jahren spiegeln.